Makroökonomik ohne Mikrofundierung?

Große Einzelakteure, kaum Möglichkeit zu gesamtwirtschaftlichen Experimenten u. ä. bewirken, dass eine Makroökonomik ohne Mikrofundierung inhaltsarm bleiben muss.

In diesem Beitrag will ich nocheinmal herausstreichen, wie wichtig es ist, eine einzelwirtschaftlich fundierte Theorie der Gesamtwirtschaft zu entwickeln. Im wirtschaftswissenschaftlichen Diskurs gibt es das Schlagwort von der fehlenden Mikrofundierung der Makroökonomik. Ich habe die fehlende Mikrofundierung lange als eine Baustelle unter anderen angesehen. Nun stelle ich mit der fehlenden Mikrofundierung die Sinnhaftigkeit der bestehenden Makroökonomik grundsätzlich in Frage. Folgende Überlegungen veranlassen mich dazu.

Zwei Welten ohne Verbindung

Fehlende Mikrofundierung verstehe ich dahingehend, dass es keine Verbindung von der Theorie der wirtschaftlichen Tätigkeiten einzelner Wirtschaftssubjekte zur Theorie der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung gibt. Überlegen wir, was es bedeutet, wenn diese Verbindung nicht existiert.

Beginnen wir als Beispiel mit meinem Lieblingsbeispiel, dem Bäckerbeispiel, einem wirtschaftlichen Vorgang aus dem Alltag: „Ich nehme ein Teil meines monetären Einkommens, gehe damit zum Bäcker. Der Bäcker hat am frühen Morgen mit seinen Angestellten und unter Zuhilfenahme diverser Vorprodukte und Ausrüstungsgegenstände Brote gebacken, die er nun anbietet. Ich wähle eines aus. Der Bäcker bekommt Geld in Höhe des Verkaufspreises und ich das Brot.
Fehlende Verbindung von einzelwirtschaftlichen zu gesamtwirtschaftlichen Theorien bedeutet nun, dass es keine gesamtwirtschaftliche Theorie gibt, die in der Lage ist, die im Beispiel aufgeführten Vorgänge zu integrieren. Einzelwirtschaftliche Prozesse sind einer gesamtwirtschaftlichen Betrachtung nicht zugänglich – das ist die eine Bedeutung des Schlagworts von der fehlenden Mikrofundierung.

Nicht nur gibt es keine Übersetzung der Prozesse, auch die Begriffe, die auf einzelwirtschaftlicher Ebene verwendet werden, können nicht auf die gesamtwirtschaftliche Ebene übertragen werden. Wenn ich beispielsweise von einer Investition des Bäckers rede, dann kann ich eine genaue Vorstellung von dieser Investition entwickeln. Es kann sich etwa um einen neuen Ofen handeln, der ein gewisses Temperaturspektrum abdeckt, der ein Volumen hat, ein Gewicht, einen Energieverbrauch, eine Haltbarkeit, ein Herstellungsverfahren, einen Preis, eine Finanzierung u. s. w. Je nach Fragestellung wähle ich dann die Aspekte aus, die ich betrachen will. Was aber ist unter Investitionen in einem makroökonomischen Modell zu verstehen? Wenn es denn stimmt, dass die Mikrofundierung fehlt, dann ist Brücke zu einzelwirtschaftlichen Investitionen nicht vorhanden. Der makroökonomische Investitionsbegriff liegt damit im Nebel.

Wir können versuchen, den Nebel zu lichten, indem wir nach den Eigenschaften fragen, die mit dem makroökonomischen Investitionsbegriff verbunden werden. Es wird sich dann beispielsweise herausstellen, dass mit Investitionen die kapazitätsvermehrende Verwendung eines Gutes in einer 1-Gut-Wirtschaft gemeint ist. Es stellt sich dann die Frage, welche Bedeutung Ergebnisse einer Betrachtung einer 1-Gut-Wirtschaft für unsere Welt haben.

Halten wir fest: Fehlende Mikrofundierung impliziert, dass sowohl die Prozesse als auch die Begriffe der einzelwirtschaftlichen Sicht und der gesamtwirtschaftlichen Sicht unverbunden nebeneinander stehen.
 
 
Das schließt im Übrigen nicht aus, dass sich einzelne Experten darum bemühen, die Bedeutung eines einzelwirtschaftlichen Prozesses für die Gesamtwirtschaft zu untersuchen. Beispielsweise werden im Zuge der Bankenkrise auch immer wieder Systemrisiken diskutiert und dabei mit Kreditketten argumentiert. Die jeweiligen Experten können jedoch auf keine ausgearbeitete Theorie zurückgreifen, sondern müssen sich die Zusammenhänge immer wieder selbst erschließen – was angesichts der Komplexität und der zur Verfügung stehenden Zeit wohl nur partielle Einblicke erlaubt.

Der Unterschied von Aggregat-Betrachtungen in der Physik und in der Gesamtwirtschaftslehre

Wenn wir beispielsweise an die Physik von Gasen denken, dann haben wir ein Beispiel dafür, dass Betrachtungen auf der Makroebene sinnvoll auch ohne Fundierung auf der Mikroebene durchgeführt werden können: Mit Eigenschaften von Gasen wie Druck und Temperatur lässt sich arbeiten, auch ohne sich auf die Bewegung einzelner Moleküle dieses Gases zu beziehen. Die Frage ist, ob es diese Möglichkeit auch für die Makroökonomik gibt.

Verfügbarkeit von Daten

Betrachten wir zunächst die Datenlage. Welche Daten sind auf makroökonomischer Ebene in welcher Qualität verfügbar?

    1. Die Daten müssen in den benötigten Dimensionen vorliegen – was nur teilweise der Fall ist.

    Beispielsweise gibt es die Theorie einer gesamtwirtschaftlichen substitutionalen Produktionsfunktion. Der postulierte Zusammenhang ist ein Zusammenhang von realen Produktionsmitteln und realem Output. Entsprechende Daten gibt es jedoch nicht. Stattdessen werden nominale Daten herangezogen, um diese Theorie zu prüfen.

    2. Daten müssen in der erforderlichen Anzahl und den erforderlichen Ausprägungen vorliegen, um unterschiedliche theoretische Positionen bewerten zu können. Um diese Daten zu generieren, sind kontrollierte und wiederholbare Experimente erforderlich, die jedoch auf gesamtwirtschaftlicher Ebene nicht durchzuführen sind.

    Beispiel: Im Zuge der Bankenkrise des Jahres 2008 hat der US-Staat die Bank Lehman-Brothers in die Insolvenz gehen lassen. Hier zu gibt es zwei Auffassungen: Die erste Auffassung geht davon aus, dass die Finanzkrise denselben Verlauf genommen hätte auch mit Eingreifen des Staates. Die andere Auffassung sieht in der Nicht-Rettung einen wesentlichen Verstärker der Krise. Wenn wir diese Auffassungen ohne Rückgriff auf einzelwirtschaftliche Prozesse gegeneinander abwägen wollen, dann bräuchten wir eine Experimentreihe, in der wir Lehman-Brothers in der einen Versuchsreihe pleite gehen lassen würden und in der anderen Versuchsreihe rechtzeitig unterstützen würden. Aus dem Ergebnis könnten wir dann für die Zukunft lernen, also die Theorie weiterentwickeln.
    Diese Möglichkeit existiert nicht.

Fazit: Die Datenlage ist für die Entwicklung einer makroökonomischen Theorie ohne Mikrofundierung unzureichend.

Systemrelevante Akteure

Das Beispiel Lehman-Brothers weist noch auf einen weiteren Unterschied zwischen einem Wirtschaftsgefüge und einem physikalischen Gas hin: Es gibt große und kleine Akteure. Die großen sind systemrelevant. Die Folge ist, dass nun eine Durchschnittsbeschreibung der wirtschaftlichen Lage aus der Vogelperspektive nicht mehr angemessen ist. Wenn dieser eine Akteur für die gesamtwirtschaftliche Situation entscheidend ist, dann braucht es eine Beschreibung der Lage dieses Akteurs. Und schon sind wir inmitten von einzelwirtschaftlichen Zuständen und Abläufen.

Fazit
  • Die Makroökonomik des Jahres 2009 kann keinen Bezug zu einzelwirtschaftlichen Prozessen und Begriffen herstellen.
  • Die Ergebnisse der Makroökonomik sind einzelwirtschaftlich nicht interpretierbar.

Eine Mikrofundierung der Makroökonomik ist erforderlich, weil

  • es große systemrelevante Einzelakteure gibt.
  • Akteure unterschiedlich von der wirtschaftlichen Entwicklung betroffen sind.
  • die Datenverfügbarkeit auf gesamtwirtschaftlicher Ebene für die Abwägung unterschiedlicher institutioneller Ausgestaltungen unzureichend ist.
  • Experimente zur Entwicklung einer nicht-mikrofundierten makroökonomischen Theorie kaum möglich sind.

Wenn wir ein Verständnis gesamtwirtschaftlicher Zusammenhänge entwickeln wollen, brauchen wir eine mikrofundierte Theorie. Die Makroökonomik des Jahres 2009 ist ohne eine solche Mikrofundierung. Wir stehen am Anfang.
 
 

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